Urgetreide, frisch vermahlen

Ein Tag bei Familie Martin auf ihrem Martinshof

Jedes Jahr im Advent werden im Ländle vielerorts die Küchen und oft sogar die Wohnzimmer zu Weihnachtsbäckereien umfunktioniert. Von Zimtsternen über Lebkuchen bis hin zu Vanillekipferln werden unzählige Sorten in liebevoller Handarbeit gezaubert. Und eine Zutat haben fast alle Weihnachtskekse gemeinsam: Mehl. In vielen Haushalten kommt dabei schon Dinkelmehl aus Vorarlberg zum Zug. Wir waren im vergangenen Sommer bei der Dinkelernte am Martinshof mit dabei und konnten in Erfahrung bringen, warum Dinkel aus Vorarlberg in einer eigenen Liga spielt.

Bis vor einigen Jahren wäre nicht daran zu denken gewesen, das Ländle als „Kornkammer“ zu bezeichnen. Zwar wuchs der Mais hervorragend, doch nicht das Getreide, dem die Vorarlberger Kombination aus unterschiedlichsten Bodenqualitäten und großen Regenmengen so gar nicht schmecken wollte. Bis … ja, bis Claudia und Bertram Martin vom Martinshof in Buch eine Handvoll Bäuerinnen und Bauern vom Dinkel überzeugen konnten. Der Rest ist Erfolgsgeschichte: 51 Familienbetriebe haben heuer an die 350 Tonnen Erntegut eingefahren und verhelfen damit dem Urgetreide zu einem absolut zeitgemäßen Auftritt. In der „kleinen Kornkammer“ Vorarlberg!

Dinkel ist kein anspruchsvolles Getreide und damit wie geschaffen fürs Ländle. Gut für uns anspruchsvolle Genießer.

Eine leichte Anspannung liegt in der Luft, als wir mit unserem Redaktionsteam zur Dinkelernte anrücken. Dabei verhalten wir uns sehr diskret und tun unser Bestes, um dem Mähdrescher nicht in der Quere zu kommen, der methodisch seine Bahnen zieht. Das Wetter macht den Dinkelbauern Sorgen. Vor allem, weil die immerhin 116 Hektar Anbaufläche breit übers Ländle verstreut sind und nun nacheinander, Feld für Feld, abgeerntet werden. „Die Ernte ist heuer wirklich eine Nervenprobe“, bestätigt Bertram Martin. „Wir haben relativ spät mit dem Dreschen beginnen können, erst am 18. Juli. Und dann waren es einfach sehr wenige dreschfähige Tage. Da wäre es natürlich besser, wenige und dafür große Felder zu haben, die man ohne große Wegzeiten abfahren kann. So aber haben wir drei Mähdrescher im Einsatz, und die Betriebe, die noch nicht dran waren, stehen sichtlich unter Strom.“

Besser früh als spät

So robust der Dinkel im Anbau ist, so wenige Fehler verzeiht er bei der Ernte. Bei einem Klima, wie wir es in den letzten Monaten hatten – mit einem ungewöhnlich milden Winter und einem verregneten Frühling und Frühsommer – sind die Erträge etwas unter dem Durchschnitt was die Menge betrifft. Der hohen Qualität kann der Regen allerdings keinen Abbruch tun. Aber die Gefahr, das Korn zu spät ins Lager zu bringen ist groß. „Dinkel ist eine Getreidesorte, die hervorragend und vor allem schnell keimt. Wenn wir uns zu lange Zeit lassen, beginnt der Prozess bereits am Halm. Dann ist das Korn für die Mehlproduktion wertlos und kann nur noch als Futtergetreide verwendet werden“, weiht uns der Dinkel-Pionier in die Herausforderungen der Ernte Koordination ein. „Da die Luftfeuchtigkeit bei der Ernte heuer aber nicht sehr hoch war, besteht keine Gefahr von Auswuchs“, beruhigt Bertram Martin. Neugierig lassen wir unsere Hände über die wogenden Ähren streifen und zerpflücken einige unter der fachkundigen Anleitung von Herrn Martin. „Hier außen, das ist der schützende Spelz, in dem der Dinkel auch gesät wird. Ein Grund, warum wir mit Vogelfraß überhaupt kein Problem haben. Bis die beiden Körnchen herausgelöst sind, ist der Hunger meistens schon zu groß, und die Tiere suchen sich eine andere Versorgungsquelle.“ Die sperrige Hülle wirkt also wie ein natürlicher „Schädlingsschutz“, der ein Beizen des Saatguts vollkommen unnötig macht. „Darum sind auch die viel diskutierten Neonicotinoide beim Dinkelanbau kein Thema.“

Vielschichtige Reifeprüfung

Uns fällt auf, dass ein Dinkel-Korn-Pärchen ganz milchig aussieht und sich leicht mit dem Fingernagel eindrücken lässt. „Damit seid ihr schon halb quali ziert für die Reifegrad-Bestimmung“, freut sich Bertram Martin. „Dieses Körnchen ist in der Tat noch nicht ganz so weit. Seht ihr, es tritt sogar ein wenig weißer Saft aus. Das vollreife Korn ist dann viel fester.“

Aber wie geht man dann vor, wenn man den richtigen Erntezeitpunkt bestimmen will? Man kann doch nicht jedes einzelne Korn anschauen? „Wir haben zwei Bewertungskriterien: ein augenscheinliches und ein technisches.“ Das augenscheinliche: Steht ein Dinkelhalm nicht mehr im vollen Saft, verfärbt sich die ehemals grüne Ähre ins Rot-Bräunliche, neigt sich mit der Schwerkraft nach unten und knickt schließlich ab, wodurch der Saftstrom vollkommen unterbrochen wird. Wenn das für den Großteil eines Feldes zutrifft, rücken die Martins mit einem Feuchtigkeitsmessgerät an. Dieses misst die Restfeuchte im Korn. Liegt diese unter 14 Prozent, kann der Mähdrescher loslegen.

Was wächst denn da?

Die Dinkelbauern rund um die Familie Martin säen allesamt Winterdinkel, genauer gesagt die Sorte „Ostro“ und „Ebners Rotkorn“. Bei diesen Sorten handelt es sich um echten, reinen Urkorn-Dinkel, der als seltene Kulturpflanze geschützt ist.

Sowohl Ostro als auch Ebners Rotkorn ist kein Hybridsaatgut, sondern kann, einmal geerntet, wieder als Saatgut eingesetzt werden. Für die Martinshof-Bäuerinnen und -Bauern ist dies die sinnvollste Form des Anbaus, auch wenn dieser spezielle Dinkel weniger ertragreich ist als so manche Alternativen. Zwischen Anfang Oktober und Anfang November werden pro Hektar Boden 150 kg Saatgut ausgebracht. Dieses beginnt kurz nach dem Säen zu keimen, bildet Wurzeln und wächst bereits im Herbst an. Nach dem Kälteschock im Winter treiben die Pflanzen im Frühling neu aus. Der Winterdinkel kommt auch mit einem kargen Untergrund und klimatisch schwierigen Bedingungen bestens zurecht, ohne den Boden allzu sehr auszulaugen. Das macht ihn auch so ideal für die traditionelle Fruchtfolge am Feld, bei der sich Jahr für Jahr unterschiedliche Kulturen abwechseln.

Um den Bodelebewesen – und damit der Bodenqualität – möglichst viel Gutes zu tun, verwenden die Dinkelbauern übrigens keine Pflanzenschutzmittel oder Halmverkürzer und unterstützen die Felder ausschließlich mit hofeigenem Dünger. Einige Betriebe arbeiten auch in kontrolliert biologischer Wirtschaftsweise.

Luftig und kühl

Während wir gefachsimpelt haben, hat der Mähdrescher ganze Arbeit geleistet. Schon startet der Anhänger voll mit sonnenwarmem Dinkel in Richtung Buch. „Wo wir versuchen, ihn so schnell wie möglich runterzukühlen“, macht Bertram Martin unsere romantischen Vorstellungen von einer heimeligen Kornkammer zunichte. Jetzt wollen wir aber auch wissen, warum es Dinkel lieber luftig und kühl mag. Auch, wenn’s vielleicht ein bisschen technisch wird. Also: Geerntetes Korn atmet. Dabei werden Kohlenhydrate abgebaut und Wärme, Wasser und Kohlendioxid erzeugt. Das ist ein ganz natürlicher Prozess. Deshalb versorgt eine ausgeklügelte Umluft-Anlage das Dinkellager laufend mit kühler und vor allem trockener Luft. Denn wenn die Temperatur niedrig ist, verlangsamt sich dieser Prozess, was die Haltbarkeit der Ernte positiv beeinflusst. Außerdem fallen viele Insekten wie der Kornkäfer schon bei einer Kühlung unter 13 Grad in eine Art Winterstarre. „Darum müssen wir uns gar nicht die Frage stellen, ob und womit wir die Silozellen begasen. Was ohnehin komplett gegen unsere Prinzipien wäre“, betont Herr Martin.

Entspelzen oder Gerben

Dass Dinkel kein Nacktgetreide ist und von einem schützenden Spelz umgeben ist, wissen wir bereits. Vor der Weiterverarbeitung der Körner muss dieser selbstverständlich möglichst vorsichtig entfernt werden. Das geht nach einer Trocknung über mehrere Wochen viel einfacher als beim frischen Korn. Das Herausschälen der Dinkelkörner vor ihrer Weiterverarbeitung – das sogenannte Entspelzen oder Gerben – erledigt eine spezialisierte Maschine, direkt im Lager am Martinshof in Buch. Und die Spelzen und das Stroh? Werden im Sinne einer nachhaltigen Kreislaufwirtschaft natürlich ebenfalls verwertet. Es wird als Einstreu für die Rinder eingesetzt und kommt, gemischt mit Mist, als Bodenverbesserer aufs Feld. Genau wie der Humusstaub, der beim Spelzen abgesaugt wird. Damit verwertet die Familie Martin jede Ernte zu 100 Prozent! So, wie es in früheren Zeiten ganz selbstverständlich war.

Mehl wie früher

Während der Mähdrescher zum nächsten Feld aufbricht – „Bis Mitternacht wird der heute sicher noch unterwegs sein!“ –, machen wir kurz einen Sprung über die Grenze. Nach Bad Wurzach in Deutschland, eineinhalb Stunden von Buch entfernt. Auf der Fahrt erzählt uns Bertram Martin: „Wir haben lange nach einer Mühle gesucht, die in jeder Hinsicht zu uns passt. In Bad Wurzach haben wir eine gefunden, die auf die Verarbeitung von Dinkel spezialisiert ist und in der alles recht überschaubar zugeht. Ganze vier Leute arbeiten dort, und entsprechend liebevoll kümmert man sich um jeden einzelnen Auftrag. Das war es uns wert, in Deutschland mahlen zu lassen.“

Müller statt Lebensmitteltechnologen! Das ist auch unser erster Eindruck, als der Seniorchef die Mühle in Gang setzt und aus den Dinkelkörnern Mehl macht. Vollkornmehl, für das, wie der Name schon sagt, das gesamte Korn vermahlen wird, aber auch helleres Auszugsmehl, bei dem die äußere Hülle nicht mitverarbeitet wird. Beiden Mehlsorten kommt die Tatsache zugute, dass in Bad Wurzach mit einer langsam drehenden Walzenmühle gearbeitet wird, die das Mehl beim Mahlen nicht erwärmt.

Wir haben lange nach einer Mühle gesucht, die in jeder Hinsicht zu uns passt. In Bad Wurzach haben wir eine gefunden …

„Bei der Mehlerzeugung gibt es eine Reihe von erlaubten Zusätzen wie Ascorbinsäure oder Enzyme. Viele dieser Zusätze helfen, die natürlichen Schwankungen in der Mehlqualität auszugleichen!“, dringt Herrn Martins Stimme durch das betriebsame Mahlgeräusch. „Hier in Bad Wurzach ist das kein Thema. Da setzen die Müller ihr ganzes Wissen und ihre ganze Erfahrung ein, damit sich unser Mehl jedes Jahr annähernd gleich gut verwenden lässt. Da können wir uns sicher sein.“ Apropos sicher: Eine eigens angemietete Anlieferungszelle für den Dinkel und eine eigene Mehlzelle sorgen dafür, dass die Dinkelausbeute des Ländles auch wieder ins Ländle zurückkehrt. Das fertige Mehl geht gesammelt retour nach Buch, wo es in hofeigenen Silos gelagert und nach Bedarf für die Ländlemärkte abgefüllt wird. Keine Kompromisse in Sachen Qualität – das ist typisch für den Martinshof!

Martinshof Dinkelmehl

Beim hellen Dinkelmehl wird nur der Fruchtkörper des Dinkelkorns vermahlen. Damit ist das helle Dinkelmehl eine hervorragende Alternative zu Weißmehl, denn die Backwaren schmecken nicht nur b’sundrig fein, sie bleiben auch schön hell. Für das dunkle Dinkelmehl vom Martinshof wird das komplette Korn, also Keimling und Schale, vermahlen. Das heißt, dass alle Vitamine, Mineralstoffe und Spurenelemente, die sich in der Schale befinden enthalten sind. Ein besonders wertvoller Beitrag zur ballaststoffreichen Ernährung. Unser Tipp: Dinkelmehl immer mit etwas mehr Flüssigkeit verarbeiten als Weizenmehl – dann werden die Weihnachtskekse heuer nicht nur ein Gaumenschmaus sondern auch b’sundrig regional!